Der Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Wohlfahrtsverbands, Ulrich Schneider, heute im Taz-Interview über die neue Studie zur Höhe der Hartz-IV-Regelsätze (s. Beitrag vom 4.9.) und das aktuell vermittelte Bild von Arbeitslosengeld-II-EmpfängerInnen in den Medien. Überschrieben ist das Interview mit dem Ausspruch von Schneider: „Die Diffamierung macht mich wütend“. Er stellt klar, dass Betrug sanktioniert werden muss, weist aber darauf hin, dass die Betrugsquote bei Hartz IV mit etwa 3 % sehr niedrig ist. Die gerade von der CSU-Generalsekretärin geforderten Verschärfungen seien schlicht Gesetzeslage und die aktuelle Medienkampagne von BILD und SAT 1 machen ihn wütend – und die Studie der beiden Chemnitzer Professoren bezeichnet er schlicht als „nur absurd“.
Archiv der Kategorie: Hartz IV/Bürgergeld
Arbeit und Anerkennung sind wichtiger als Geld!?
Nun hat endlich eine Studie herausgefunden, dass die Hartz-IV-Sätze nicht zu gering, sondern zu hoch sind! Die TU Chemnitz hat unter Leitung des Finanzexperten Friedrich Thießen herausgefunden: „Gemessen an den von der Gesellschaft festgelegten Zielen der sozialen Mindestsicherung sind die Hartz-IV-Gelder nicht zu niedrig, sondern eher zu hoch. Als gerecht wird das System dennoch von vielen nicht empfunden, weil es den Bedürftigen nur Geld gewährt und ihnen verwehrt, was sie wirklich wollen: Arbeit und Anerkennung.“ (Website). Wie dies ermittelt wurde, kann in der Kurzfassung der Studie sowie in einem Aufsatz nachgelesen werden. Und da bleibt einem wirklich die Spucke weg: Mit 132 Euro monatlich kann man angeblich im sog. „Minimumsfall“ leben, und großzügige 278 Euro sind dann der „Maximumsfall“. Die Studie zeichnet sich aus durch Fehler und unklare Formulierungen (z. B.: Jeder bekomme 350 Euro Regelsatz, der Regelsatz errechne sich aus einem Warenkorb ). Interessant sind dann aber vor allem die errechneten „Kosten der sozialen Mindestsicherung“. So werden im „Minimumsfall“ 1 Euro für Freizeit, Kultur und Unterhaltung angesetzt (und erklärt mit einer Bibliotheksgebühr) sowie 2 Euro für Kommunikation und 7 Euro für Gebrauchsgegenstände. Da schließe ich mich doch der Taz von gestern an, die in ihrer „verboten“-Rubrik schrieb: „Aber warum nur Hartz-IV-Empfänger mit 132 Euro monatlich alimentieren? Warum dieses großzügige Salär nicht auch zwei ganz verdienstvollen Chemnitzer Wirtschaftswissenschaftlern gewähren?“
Link zur Website der TU Chemnitz mit weiterer Verlinkung zu den Ergebnissen
50.000 Hartz-IV-Klagen beim Sozialgericht Berlin
Wie die Taz am Wochenende berichtete, ist beim Sozialgericht Berlin die 50.000. Klage gegen eine Entscheidung der Berliner JobCenter eingegangen. Gegenüber der Sozialhilfe hat sich die Anzahl der Klagen massiv erhöht, so rechnen die RichterInnen dieses Jahr mit ca. 21.400 neuen Verfahren gegenüber 6.500 Klagen zur Sozial- und Arbeitslosenhilfe 2004. Jeder/r Zweite gewinnt seine Klage, sodass nicht mehr wie zum Start von Hartz IV von einem Übergangsproblem gesprochen werden kann. Das Problem liegt im System, so wird Justizsenatorin Gisela von der Aue zitiert, die Sozialgerichte müssten die Lücken füllen, die der Gesetzgeber mit den vielen unbestimmten Rechtsbegriffen gelassen haben.
Das Wunder von Hartz IV?
Die FAS von heute berichtet in ihrem Wirtschaftsteil vom „Wunder am deutschen Arbeitsmarkt“. Die Arbeitslosigkeit sinke aufgrund von Hartz IV: „Es ist für viele Menschen nicht mehr so attraktiv, vom Arbeitslosengeld zu leben“. Vor allem qualifizierte Arbeitslose aus der Mittelschicht würden aufgrund der geringen Regelsätze von Alg II intensiver nach Arbeit suchen als mit dem höheren Alg I. Ein Beispiel präsentiert die FAS gleich mit – den Techniker CK, der wieder eine (unbefristete) Stelle gefunden hat. Die Kehrseite der Medaille verschweigt die FAS gar nicht, problematisiert sie aber auch nicht: Der erhöhte Druck auf die Arbeitslosengeld-II-BezieherInnen führt auch zu niedrigen Löhnen und Gehältern, denn alles erscheint eben besser als Hartz IV. Lediglich bei den Unqualifizierten verfängt dies nicht, da sie weiterhin aufstockend Alg II benötigen, wenn ihr Einkommen so gering ist, dass es den Regelsatz plus Unterkunftskosten nicht übersteigt. Fazit: Die UnternehmerInnen können sich bei den PolitikerInnen bedanken. Und wir wissen nun endgültig: Wer arbeiten will, findet auch was!
Starthilfe für Erstklässler und billige Pflegekräfte
Kaum freut man sich beim morgendlichen Zeitungslesen über eine gute Nachricht für Berliner Kinder aus finanziell schwachen Familien, liest man ein paar Seiten weiter den mindestens ambivalente Gefühle auslösenden Artikel über billige Pflegekräfte durch kurzausgebildete Langzeitarbeitslose. Der Reihe nach:
Fast alle Tageszeitungen bringen heute eine kurze Nachricht zur Entscheidung des Berliner Senats, finanziell bedürftigen Berliner Erstklässlern ab dem kommenden Schuljahr ein sog. „Starter-Paket“ zu gewähren, das aus einem Härtefallfonds finanziert werden soll. Insgesamt 300.000 Euro sollen die Bezirke hierfür zur Verfügung gestellt bekommen. Initiiert hat das Ganze die Linke.
Link zur Nachricht im Tagesspiegel
In der Taz werden heute die Pläne der Bundesagentur für Arbeit problematisiert, Arbeitslose nach einer kurzen Schulung für die Betreuung von Demenzkranken einzusetzen. Betont wird von allen offiziellen Seiten, dass dadurch keine qualifizierten Kräfte ersetzt werden sollen, sondern zusätzliche Unterstützung gewährt werden soll – z. B. durch Vorlesen, Halmaspielen etc. Dementsprechend unterschiedlich sind die Reaktionen. Während das Vorhaben z. B. durch den Verein für selbstbestimmtes Wohnen im Alter e. V. begrüßt wird, finden es andere wie der Verein für Behindertenhilfe in Hamburg „sträflich“, „Langzeitlose auf Demenzkranke loszulassen“. Die Gewerkschaft Ver.di sieht die Gefahr, dass noch mehr Billigkräfte die Situation der PatientInnen in der Pflege weiter verschlechtern. Und ob man der Versicherung vertrauen kann, keine Festangestellten dafür einzusparen, ist noch die große Frage…
Was ist neu nach der Sommerpause?
Neues gibt es zum Thema Regelsätze für Alg-II-EmpfängerInnen: Die Berliner Sozialsenatorin setzt sich für eine Erhöhung der Regelsätze ein, so will sie das Thema bei der Konferenz der Arbeits- und Sozialminister im November erneut auf den Tisch bringen. Zwar hat die Konferenz dies im Mai schon einmal beschlossen, die Bundesregierung hat trotz Aufforderung des Bundesrats die Regelsätze aber nicht erhöht. Näheres siehe Taz-Artikel von heute.
Ansonsten ist die Klagewelle gegen Alg-II-Bescheide lt. einem Artikel in der FR weiterhin ungebrochen. Als Blamage wird dies bezeichnet, da die sog. Sozialreformen eigentlich Bürokratie abbauen und die Verfahren vereinfachen sollten. Süffisant stellt die Zeitung fest, dass Hartz IV so tatsächlich zu einem „gigantischen Beschäftigungsprogramm“ geworden ist – für Anwälte, Richter und die Verwaltung!
Außerdem hat der Bundesrechnungshof einem Bericht der HAZ zufolge gravierende Mängel bei der Arbeit der Job-Center zur Vermittlung von Arbeitssuchenden festgestellt. In einem Prüfbericht seien u. a. lange Wartezeiten sowie der Missbrauch mit Ein-Euro-Jobs bemängelt worden.
Link zum HAZ-Artikel vom 25.7.
Verfassungsänderung für „Hilfen aus einer Hand“
Das Bundesverfassungsgericht hatte im Dezember 2007 die Mischverwaltung in den ARGEn bemängelt. Bundesarbeitsminister Scholz hatte daraufhin ein Modell der „kooperativen JobCenter“ vorgelegt, konnte sich damit aber nicht durchsetzen. Wie u. a. Spiegel.de heute berichtet, haben nun die Bundesländer einstimmig für eine Verfassungsänderung votiert, um für Hartz-IV-EmpfängerInnen weiterhin „Hilfen aus einer Hand“ gewähren zu können. Nun muss noch Bundestag und Bundesrat mit mindestens 2/3-Mehrheit die Grundgesetzänderung absegnen. Parallel soll die Zusammenarbeit von Kommune und Arbeitsagentur verbessert werden.
Regierung hantiert mit alten Zahlen zur Kinderarmut
Im Dezember 2007 hat „Die Linke“ eine Große Anfrage zum Thema Kinderarmut gestellt. Wie die Taz heute berichtet, liegt nun die Antwort der Bundesregierung vor. Auf die Frage, warum im aktuellen Armuts- und Reichtumsbericht das Ausmaß von Kinderarmut in Deutschland mit 12 % angegeben wird, obwohl das zuständige Ministerium unter Frau von der Leyen längst aktuellere Zahlen vorgelegt hat, die 16-17 % Armutsbetroffenheit benennen, wird auf die nötige internationale Vergleichbarkeit verwiesen, die schon als Argument für die unterschiedlichen Daten zur Armutsbetroffenheit in Deutschland insgesamt herhalten musste (13 % statt 18 %, siehe Meldung vom 20.5.08). Wenn die alternativen Daten ein geringeres Ausmaß von Armut ergeben würden, wie hätte sich die Regierung in diesem Fall wohl entschieden??? Zur Armutsbetroffenheit von Kindern aus Einwandererfamilien konnte die Bundesregierung in der Antwort auf die Große Anfrage lt. Taz keine Angaben machen. Dabei habe auch hier das Familienministerium längst Zahlen vorgelegt, nach denen die Armutsrisikoquote dieser Gruppe bei rund 30 % liegt. Sicher ist sich die Regierung in ihrer Antwort auf die Große Anfrage jedoch, dass die Regelsätze für Kinder beim Alg II ausreichend seien…
Neues nach der EM
Die Fußballeuropameisterschaft ist vorbei. Der neue Regelsatz beim Arbeitslosengeld II kommt – ab heute erhält der Haushaltsvorstand 351 Euro statt wie zuvor 347 Euro. Auch die vom Regelsatz des Haushaltvorstandes abgeleiteten Regelsätze für Angehörige erhöhen sich entsprechend. Die Erhöhung beträgt 1,1 % – gekoppelt an die Rentenerhöhung. Angesichts einer Inflation letztes Jahr von 2,3 % wird aus der Erhöhung ein Verlust von 1,2 %. Also auch hier nicht wirklich ein Grund zu feiern.
Gleichzeitig wird das Wohngeld zum 1. Januar 2009 im Durchschnitt um zwei Drittel auf 150 Euro monatlich erhöht. Das beschloss das Bundeskabinett am Mittwoch in Berlin.
Mehr Eltern als zuvor können den Kinderzuschlag erhalten, an der maximalen Höhe von 140 Euro ändert sich aber nichts.
Kinderschutzchef zum Thema Kinderarmut im Interview
In der TAZ von gestern äußert sich der Präsident des Kinderschutzbundes zu den Vorschlägen der SPD und CDU zum Thema Kinderarmut (s. a. die letzten Blogmeldungen zum Thema). Er wendet sich gegen die gekürzten Regelsätze für Kinder beim Arbeitslosengeld II, da diese willkürlich festgesetzt worden seien. Im Gegensatz dazu fordert er eine Grundsicherung für Kinder in Höhe von run d 400 Euro pro Kind – und zwar für alle Kinder – ob arm oder reich. Dies würde auch das gegenwärtige Kindergeld überflüssig machen.